Bildreflexion Samantha Deutesfeld (sie/ihr) (10)

Samantha Deutesfeld (sie/ihr)
Instagram: @sam_dts 

Im Dazwischen lässt sich Standhaftigkeit erlernen

Im Anschluss an Sitzung acht der Visions for Climate Vorlesungsreihe (von C. Mörsch und S. Bast) habe ich das starke Bedürfnis verspürt, eine eindringliche Erfahrung im Zusammenhang mit der Klimakrise bildlich darzustellen. Beim Bild handelt es sich um eine Photoshop- Bearbeitung des Werks „Der Schrei“ von Edvard Munch, 1893. Öl, Tempera und Pastell auf Pappe, 91 x 73,5 cm, Norwegische Nationalgalerie Oslo und zweier privater Bildaufnahmen: einer Gleisstrecke kurz vor der Hamburger Philharmonie vom 14. August 2022 und des Ausblicks vom Berg „Mauna Kea“ auf der Insel Big Island vom 12. November 2021.

Im August 2021 begann mein Auslandssemester an der Hawai’i Pacific University in O’ahu, im Königreich Hawai’i. Ziel des Auslandssemesters war ursprünglich ein erster Eindruck über ein mögliches Forschungsfeld für meine Bachelorarbeit. Diesen Plan habe ich jedoch nach einigen Konfrontationen und Realisierungen beiseitegelegt. Die Zusammenführung unterschiedlicher Bildelemente soll verkörpern, welchen inneren Ausdruck ich wahrnahm, als ich auf dem Mauna Kea, dem heiligsten und wichtigsten Ort der Indigenen Hawaiianischen Gemeinschaft stand. Das, was sich bei kurzer Hinsicht als seichte See zeigt, sind tatsächlich Wolken. Hinter den Wolken versinkt die Abendsonne, ihr sanfter Abschied malt den Himmel in Farben, die den Untergang prophezeien. Ein wahrhaft epischer Moment. Bei Minusgraden über den Wolken starrte ich also hinaus aufs Wolkenmeer, ließ meinen Blick die Sonne bei ihrem Abgang begleiten. Und alles, was mein Inneres mir vorhielt, war Verzweiflung. Verzweiflung im Angesicht einer solchen Schönheit, deren unbezahlbarer Wert in der Erinnerungsgallerie meines Herzens einen festen Platz eingenommen hat. Verzweiflung darüber, dass dieser Ort trotz all seiner offensichtlichen Einzigartigkeit umkämpft, kolonialisiert und geraubt ist. Mauna Kea, was übersetzt so viel wie „weißer Berg“ heißt, ist in der Hawaiianischen traditionellen spirituellen Praxis der Ort, an dem die Seelen der Verstorbenen heimkehren, sich treffen und vom Dies- ins Jenseits gleiten. Es ist der Ort, an dem Lebende Kontakt zu ihren verstorbenen Geliebten haben können und die Götter*innen und Ahnen den Menschen ein Stück näher sind als sonst. Ein 30 Meter hohes Teleskop soll auf dem heiligen Berg gebaut werden, seit Jahren tobt eine Diskussion darüber, wer den Berg als Treuhänder*in bewacht und welchen Institutionen welche Verantwortung darin zukommt, die Unversehrtheit des spirituellen Zentrums zu gewährleisten. Durch den stetig wachsenden Tourismusbetrieb der hawaiianischen Inseln, der auch Mauna Kea betrifft, werden die Grundsubstanz der Zufahrtswege, das Ökosystem auf dem Berg selbst und relevante, heilige Gewässer am Berg gefährdet. So etwas wie eine Zugstrecke auf dem Berg gibt es (noch) nicht, jedoch wollte ich ein visuelles Element integrieren, dass sowohl in Munchs als auch in unseren Zeiten eine Kommunikationsfunktion übernimmt. Nämlich die der Erreichbarkeit, der Zugänglichkeit und der Systemintegration. Wenn man die Fläche unter dem Meeresspiegel außerdem in die Höhenmeter integriert, ist Mauna Kea der höchste Punkt des Planeten Erde.

In all dem stehe ich und schau dem wärmenden Licht der Sonne nach. Es ist die Gleichzeitigkeit der Dinge, die mich fasziniert, quält, drängt. Ich erinnere mich an das, was ich gefühlt habe, als ich den „Schrei“ Munchs das erste Mal sah. Ein Mensch, der ein Leben voller Kränkung, Traurigkeit, Tod und Schwierigkeiten führte. Der seine Mutter und Schwester verlor. Von seinem christlich-fundamentalistischen Vater in die Mangel des Höchsten genommen wird. Dem viel mehr Melancholie als Blut durch die Adern fließt. Ein entgenderter,

depersonalisierter Mensch, der ein affektives Abbild seines Erzeugers ist, hält sich seine eigenen Ohren zu, um der trommelfellzerberstenden Kraft eines Schreis nicht ausgesetzt zu sein. Unsere Geschichten gleichen sich in so vielem, und sind doch wie Tag und Nacht. Überforderung schleicht sich an, auch ich halte mir die Ohren zu. Wer hört dieses Schreien und wer verursacht es? Wer nimmt sich des Lärms an? Die Angst vor dem Schrei lässt mich am eisigen Boden meines steinigen Untergrundes festfrieren, mein Blick gleitet ins dunkler werdende Wolkenmeer.

Im Angesicht dieser Szene löse ich meine Hände und lege sie in meinen Schoß. Es ist so laut wie ich dachte. Rauschen, Weinen, Schreie der Verzweiflung durchdringen meine Knochen, es ist so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber da ist auch etwas Anderes, ein anderes Geräusch. Da ist ein sanftes, mich haltendes Summen all jener, die ich je geliebt habe. Sie konkurrieren nicht mit den Schreien, alles koexistiert. Und ich halte aus, was ich heute aushalten kann.

Auch auf dem höchsten Punkt dieser Erde werden die Schreie der Natur und Leidenden noch hörbar sein. Es gibt keinen Ort, an den wir fliehen könnten, um der Klimakrise zu entlaufen. Ihre Auswüchse, Konsequenzen und Bedrohlichkeiten mit unseren Sinnen auszublenden ist vielmehr ein destruktivistischer Akt an uns selbst, durch den wir uns die Chance nehmen, Schreie auszuhalten, Resilienz zu entwickeln, in der Krise das Neue zu erhoffen. Im Vernehmen unheimlicher Angst, vor der Zukunft, um die Welt, um diejenigen, die mir nah sind, konnte ich nur aus einem Grund bestehen. Ich bestand, für eine Zeit lang, weil ich in diesem Dissonanzzustand nicht allein gelassen wurde. Weil alle, die vor mir kamen, sich stärkend in meinen Rücken stemmten, damit ich nicht zerbreche.

In der Auseinandersetzung mit meiner Rolle als afrodiasporisch-deutscher Studentin an der HPU hat mich das Rezipieren von und Lernen über vielfältige (Indigene) Kunstpraxen darin unterstützt, mich und meine Ängste besser zu verstehen. Ich habe jedoch erst Monate nach meiner Rückkehr bei einem Museumsbesuch an Edvard Munchs Schreivariationen denken müssen, durch die ich dann jedoch direkt an meine Mauna Kea Erfahrung erinnert wurde. Der Anblick meiner Kreation erfüllt mich mit einem Regenbogenspektrum komplexer (Klima-) Gefühle. Jedes Mal bringt er mir aber vor allem eins: einen beseelten Fokus darauf, dass Krise nie allein zu bewältigen ist und wir Räume/Orte/Plätze brauchen, in denen wir in Sicherheit hören können, welche Schreie in und um uns toben.